Ein Leben als Wanderer
Für Maurice Herson machen regelmäßige Ortswechsel immer Sinn, in jeder Sprache

Maurice at the former Whittle workshop
Maurice in der ehemaligen Werkstatt von Whittle

Von: Jane Audas

Photos: Vitsœ

Maurice Herson besitzt viele Wörterbücher. Englisch, Arabisch, noch mehr Englisch. Latein und Griechisch. Etwas Französisch, Deutsch, Italienisch und Niederländisch. Oh, und Indonesisch. Sprache ist sowohl seine Leidenschaft als auch ein Schlüssel, um andere Kulturen zu erschließen: „Ich habe ein paar Monate in Somalia verbracht und mir ein somalisches Grammatikbuch besorgt, weil ich nicht von Menschen umgeben sein wollte, die eine Sprache sprechen, von der ich keine Ahnung habe. Aber es ist auch eine Chance. Ich habe dabei alles Mögliche gelernt. Sprachen sind mein Vergnügen.“

Sudanese Colloquial Arabic for Beginners
Sudanesisches Arabisch für Anfänger (Umgangssprache)

Sein ganzes Leben lang hat Maurice alle Gelegenheiten beim Schopf ergriffen, ist seinen Instinkten gefolgt und hat verschiedene Karrieren an unterschiedlichen Orten in Betracht gezogen. „Ich habe viele Dinge getan“, untertreibt er. Nach seinem Studium der Klassischen Philologie war er lange Zeit auf der ganzen Welt für verschiedene Wohltätigkeitsorganisationen tätig, darunter Oxfam. Aber auch Grafikdesigner, LKW-Fahrer und Zeitschriftenredakteur zählen zu seinen früheren Jobs.

Maurice lebt in Vitsœs Heimatstadt Royal Leamington Spa in England, in einem interessanten Gebäude, das er 2022 gekauft hat. Es war früher eine Werkstatt, die dem Vater von Sir Frank Whittle gehörte – dem Ingenieur, der das Turbotriebwerk erfunden hat. Wenn man romantisch veranlagt ist, könnte man sich vorstellen wie Frank dort als Kind vielleicht an einer Meccano-Drehmaschine bastelte. Aber die Verbindung zu Whittle war für Maurice nicht die Attraktion. „Ich habe es gekauft, weil ich in einem 1920er-Jahre-Haus in einem Londoner Vorort aufgewachsen bin. Ich habe auch schon in viktorianischen Häusern und solchen aus den 1930er und 1940er Jahren gewohnt. Sie sind alle irgendwie gleich. Aber dieses ist anders. Und es war dieser Unterschied, der mich angezogen hat.“ Das Gebäude hat eine interessante Bausubstanz, aber die ehemalige Werkstatt ist jetzt ein Wohnraum mit einem kleinen Innenhof, in dem Maurice einen vertikalen Garten angelegt hat.

Vertical planting in the courtyard
Der vertikale Garten im Hof

Maurices Karriere als Weltenbummler bedeutete, dass er nur ab und zu in typisch englischen Häusern und Wohnungen gelebt hat. Nach seinem ersten Job im Ausland, in Griechenland, sah er eine Anzeige, in der englische Muttersprachler im Sudan gesucht wurden. Er verbrachte dort ein Jahr als Englischlehrer an staatlichen Schulen und wollte gar nicht mehr weg. Das war Mitte der 1980er Jahre, als in Äthiopien Hungersnot herrschte und die Band-Aid-Konzerte stattfanden. Wegen Krankheit musste Maurice nach England zurückkehren. Nach seiner Genesung bot er seine Erfahrung und seine Arabischkenntnisse der Wohltätigkeitsorganisation Save the Children an und war schon bald auf dem Weg zurück nach Darfur im westlichen Sudan.

Maurice in Darfur, western Sudan, 1986
Maurice in Darfur, westlicher Sudan, 1986

Einige Zeit später, nun wieder in England, machte er einen Master in Linguistik und arbeitete anschließend als Lastwagenfahrer. Als er am Steuer saß und den BBC World Service im Radio hörte, sprach gerade ein Oxfam-Mitarbeiter über seine Arbeit. Maurice schickte dem Sprecher einen Brief. Daraufhin verbrachte er zweieinhalb Jahre im Nordostsudan, wo er ein Programm zur Verteilung von Nahrungsmitteln leitete, als das Land gerade dabei war, sich von der Hungersnot zu erholen. Insgesamt arbeitete er 17 Jahre lang für Oxfam, in vielen verschiedenen Positionen, unter anderem in Sri Lanka, Somalia, Indonesien, Ruanda, Mittelamerika, auf dem Balkan und in Oxford, England – wo Oxfam seinen Hauptsitz hat.

Pinboard with sign saying ’Forget recycling, it’s time to just stop buying stuff‘, top right
„Vergiss Recycling; wir müssen aufhören, Dinge zu kaufen“, oben rechts

Nach seiner Zeit bei Oxfam arbeitete er als Redakteur eines Magazins über Geflüchtete an der Universität Oxford, was perfekt zu seinen Erfahrungen passte. In Oxford engagierte er sich auch für die „Bibliothek der Dinge“, ein Projekt, das Menschen Zugang zu Dingen verschafft, die sie vorübergehend brauchen, aber nicht besitzen müssen. Es ist eine wachsende Bewegung. Ein Brotbackautomat war der erste Gegenstand, den man aus der Bibliothek ausleihen konnte. Es folgten viele Werkzeuge, Lichterketten, ein großer Rasenmäher und dann etwa 750 andere Dinge, die man nur gelegentlich braucht. Für Maurice entsprach dieses Projekt seinem Wunsch nach einem Ort, an dem er selbst aktiv werden, seine Fähigkeiten und sein Wissen einsetzen und sich als Teil eines größeren (menschlichen) Ganzen fühlen konnte. „Ich finde es schlimm, dass so viele Dinge weggeworfen werden – aber noch schlimmer ist, dass so viele Dinge unnötigerweise gekauft werden. Ich habe einen Zettel an meiner Pinnwand, auf dem steht: „Vergiss Recycling; wir müssen aufhören, Dinge zu kaufen“. Das ist die Idee. Man kann den Leuten sagen: „Nein, kaufen Sie keine Bohrmaschine. Leihen Sie sich unsere. Es sei denn, Sie brauchen sie ständig für sich selbst.“

Während der Pandemie hatte Maurice Zeit, um nachzudenken, und er stellte fest, dass er sich nach Veränderung sehnte. Nach einer anderen Art von Leben. Er wollte einen Ort, an dem er überall mit dem Fahrrad hinfahren konnte, denn sein Fahrrad ist sein Leben. Er wollte nicht in einem Dorf und auch nicht in einer Stadt leben. Nachdem er 29 Jahre lang in Oxford gelebt hatte, zog es Maurice wieder nach Royal Leamington Spa. Trotz einer Aussortierungsaktion kam Maurice mit sehr vielen Büchern an. In Oxford hatte er seine Wörterbücher und andere Bücher in selbstgebauten Regalen aus seinen recycelten Dachbodenbrettern untergebracht. Aber in Leamington kamen verschiedene Umstände zusammen, die ihn veranlassten, seine Bücherregale aufzurüsten und zukunftssicher zu machen. Alle anderen Möbel spiegeln sein wanderndes Leben wider; sie stammen aus seinen anderen Wohnungen. Es gibt keine Designermöbel – aber jedes Stück erzählt eine Geschichte.

Photo album Top: Maurice (left) in northern Sri Lanka, 1991
Bottom: Oxfam’s Sri Lanka team, 1992
Fotoalbum. Oben: Maurice (links) im Norden Sri Lankas, 1991. Unten: Das Oxfam-Team in Sri Lanka, 1992

Sein Kriterium für neue Regale war, dass sie von guter Qualität sein und gut aussehen sollten. Eine Google-Suche nach modularen Regalen brachte Maurice auf die Website von Vitsœ, wo er Dieter Rams Zehn Thesen für gutes Design fand, von denen jede einzelne ihm sehr zusagte. Ihm gefiel, dass die Website mehr als nur „schöne Bilder“ enthielt. Er ist, wie er sagt, ein praktischer Mensch – und er wollte nicht, dass die Regale auftauchen und er nicht versteht, wie sie funktionieren.

Er war angetan von den Gründen, warum Vitsœ eine eigene Fabrik gebaut hat. Für jemanden, der gerne Dinge repariert, ist es inspirierend, dass die Vorgänge im Gebäude so transparent gestaltet sind, dass sie sichtbar und zugänglich sind. Das Unternehmen und sein Produktionsgebäude sind sehr durchdacht; das beeindruckte ihn. Und das Produktdesign natürlich auch. Obwohl er vorher noch nie etwas von Dieter Rams gehört hatte, ist er nun geradezu besessen von seinem Regalsystem 606. „Ich schaue mir diese Regale an und freue mich jeden Tag darüber. Es ist lächerlich, nicht wahr?“

Maurice at home
„So viele Wörterbücher…“ zu Hause in Royal Leamington Spa

Für diejenigen unter uns, die nur für ein paar Tage oder Wochen am Stück in andere Länder reisen, hat Maurice in einem ungewöhnlichen Ausmaß im Ausland gelebt. Aber er sieht sich selbst eher als neu verwurzelt denn als entwurzelt – und es tut ihm gut. „Ich glaube, wir Menschen haben alle bis zu einem gewissen Grad mit Veränderungen zu kämpfen. Einige von uns mögen Veränderungen und andere hassen sie. Ich mag Veränderungen.“ Die Aussicht, irgendwann von Royal Leamington Spa wegzuziehen, macht ihm keine Angst und er freut sich, dass sein Regalsystem 606 so konzipiert ist, dass es mit ihm mitziehen kann.