Von Punk bis Bauhaus
Gary Hustwit über seine eigene „Do it yourself”-Ästhetik und Dieter Rams

Gary Hustwit at home in New York

Worte: Vitsœ

Fotos: Jessica Edwards and Gary Hustwit

Beim Gedanken an Vitsœs renommierten Designer Dieter Rams kommt wohl den wenigsten als erstes Punkrock in den Sinn, aber der amerikanische Filmemacher Gary Hustwit sieht eine klare Verbindung. Während die Welt auf die Premiere seines via Crowdfunding finanzierten Dokumentarfilms über Rams wartet, verrät Hustwit uns, was ihn antreibt.

Hustwit besteht darauf, dass es Parallelen zwischen der Sicherheitsnadel-Ästhetik des Punk und dem Design-Ethos von Rams gibt. „Für mich ist beides nicht zu trennen“, sagt er. „Wenn ich über Punk in meinem Alltag nachdenke, geht es nicht um einen bestimmten Musikstil – es ist eher ein Geisteszustand. Es geht darum, die Projekte, an denen ich arbeiten möchte, zu verfolgen und dies zu meinen eigenen Bedingungen zu tun. Zum Beispiel die Filme der ‘Design Trilogy’ unabhängig zu produzieren und nicht für eine große Firma zu arbeiten … Das gehört alles zu den Verbindungslinien: Die Welt zu erschaffen, in der du leben willst.

Ich bin über das Bauhaus zum Design gekommen. Der disziplinenübergreifende Ansatz und der Arbeitskontext kamen mir so befreiend vor. Mich hat nicht so sehr die Form interessiert, sondern die Idee dahinter. Nur weil ein Gebäude von Walter Gropius klare Linien hat, ist es noch nicht total radikal und revolutionär. Es ist vielmehr der Akt der Störung des Systems oder der Evolution, der mich auch zu jemandem wie Dieter zieht.

Gary Hustwit at home in New York
Gary Hustwit in seiner New Yorker Wohnung

Hustwits eigene Entwicklung war eher ungewöhnlich: „Ich hatte eine interessante Ausbildung. Meine Eltern und ihre Freunde gründeten eine Hippie-Schule mit einem Lehrer, den sie alle kannten. Ab der sechsten Klasse war ich in einer sehr kreativen, unkonventionellen Lernsituation, die nicht von Geisteswissenschaften, Sprache, Drama, Poesie, Kunst und Musik abwich. Ich hatte eine kreative Großmutter und habe mit 15 Jahren angefangen, zu skaten und zu surfen. Diese Art des Schulunterrichts und das Gefühl der Rebellion gegen die konservative Stadt, in der ich lebte, haben sicher gepägt, wer ich heute bin.“

Wie viele seiner Zeitgenossen, entdeckte er Design über damals neue Technologien, die viele kreative Aktivitäten – einschließlich der des Filmemachens – demokratisierten. „Wenn ich mich frage, warum ich anfing, Filme über Design zu machen, führt das in meine Zeit als Teenager zurück“, verrät er. „Alle meine Freunde waren in Bands, also haben wir beschlossen, ein Konzert zu veranstalten. Wir mieteten einen Saal, ein Soundsystem und produzierten Flyer: Da kam ich zum ersten mal mit Grafikdesign in Berührung.“

„Ein Freund von mir hatte den allerersten Apple Macintosh, den 128K. Plötzlich wurde Typografie zu einem ‘Ding’ und bedeutete, dass wir Cover für Mixtapes machen konnten. Ich fing an, mit rudimentären Druckprogrammen herumzuspielen, und obwohl ich nicht zeichnen konnte, erschienen meine Zufallsprodukte am Computer legitim. Plötzlich sahen meine Ideen glaubwürdig aus. Um diese DIY-Ästhetik geht es mir noch heute. Die ist mir geblieben.“

Gary Hustwit’s 606 Universal Shelving System
Hustwits Regalsystem 606, gestaltet von Dieter Rams

Als selbsternannter Meister vieler Berufe begann Hustwits Karriere in der Musikbranche mit einer langen Zeit beim kalifornischen Independent-Plattenlabel SST, das von Greg Ginn ins Leben gerufen wurde. Während der dot.com-Blase zog er nach New York und gründete sein eigenes Verlagshaus und DVD-Label. In keiner Phase seines Arbeitslebens konnte er dem Drang widerstehen, sein Wissen zu teilen. Kollektive zu gründen, ist seine Leidenschaft. Fast alles, woran er mitgearbeitet hat, „war eine direkte Folge des Schocks und des Unglaubens, dass etwas noch nicht existiert“, erklärt er. „Wenn ich eine Idee in meinem Kopf habe, möchte ich sie für mich selbst, meine Freunde und andere Leute unbedingt draußen in der Welt sehen. Und ich werde mit allen Mitteln sicherstellen, dass sie verwirklicht wird.“

In den Archiven von Vitsœ und Braun fand Hustwit unveröffentlichte Bilder für seinen Film.

Auch seine zupackende Herangehensweise an das Filmemachen geht auf seine lebenslange Freude an Entdeckungen zurück. Seine unersättliche Neugier hat ihn zu einem künstlerischen Forscher gemacht, der die Momente aufspürt, in denen Menschen mit bahnbrechenden Ideen die Welt veränderten. „Die Chancen, dass ich neue Landmassen im Südpazifik entdecken werde, sind sehr gering. Aber: die Verbindung zwischen einem obskuren Designer, Musiker, Architekten oder Fotografen – und der ihrer Arbeit zum modernen Leben – aufzudecken, fasziniert mich. Für mich liegt der Reiz darin, die Fakten zusammenzutragen und sie dann in ein Format zu bringen, das für die Leute interessant ist.“

Während der Arbeit an seiner Design-Trilogie mit den Filmen „Helvetica“, „Objectified“ und „Urbanized“ wuchsen Hustwits Wissen und seine persönlichen Verbindungen in der internationalen Design-Community. In den Jahren danach befand er sich in einer idealen Position, um das vorausschauende Potential von Dieter Rams und seinen Entwürfen für Vitsœ und Braun zu beleuchten. Hustwits direkter Kontakt zu Rams hat ihn zu einem philosophischen Verständnis seines Werks geführt, das allzu oft nur für seine Ästhetik gefeiert wird.

Dreharbeiten in der Ausstellung Dieter Rams. Modular World

Während der Dreharbeiten kamen sich die beiden über die Liebe zur Musik und deren Rolle in ihrer rebellischen Jugend näher: Punkrock für Hustwit, Jazz für Rams. Beide Genres verängstigten Eltern, weil sie ihre Kinder in rauchige Keller voller junger Menschen lockten, hungrig nach Veränderung.

Lachend erzählt Hustwit, dass sich die Gespräche mit Rams nicht nur um die erstaunlichen Parallelen zwischen Miles Davis und Nirvana, sondern auch um die Beherrschung eines Handwerks als Berufung bezogen. „Rückblickend erinnert Rams sich an Momente, in denen er spürte, dass er und sein Team wirklich etwas erreicht haben“, sagt er. „Die Tatsache, dass wir immer noch über alltägliche Objekte sprechen, als wären sie Kunstwerke, ist wahrscheinlich ein Beweis dafür. Heute ist er sich seiner selbst, seiner Ideen und seiner Arbeit absolut sicher.“

Filmen der Strong Collection in Vitsœs New Yorker Shop

„Er denkt noch immer über seine Entwürfe für Vitsœ nach. Tatsächlich geht es bei diesen Gedanken darum, seine Ideologie und Philosophie zu kristallisieren. Ein bisschen wie beim Herstellen eines Samurai-Schwerts: Man verbringt Jahre oder Jahrzehnte damit, das perfekte Produkt zu erschaffen. Das ist uns heute verloren gegangen, denke ich. Rams empfindet so etwas wie leises Bedauern über sein Engagement auf dem Gebiet des Industriedesigns, weil das Ganze eine etwas wahnsinnige Entwicklung genommen hat. Er hat das Gefühl, dass er eine Rolle gespielt hat bei der Erzeugung dieser Lust an neuen Technologien. Das war in den 1950er Jahren noch nicht Teil seiner Arbeit. Da wollte er bessere Dinge für Menschen schaffen, die sehr lange halten würden. Das ist heute selten.“

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Gary Hustwits Documentarfilm ‘Rams’ feiert im Herbst 2018 weltweit Premiere. Termine werden fortlaufend unter hustwit.com/events angekündigt.