Die Modernisten
Eine Würdigung der Architektur des 20. Jahrhunderts

Eddy Rhead und Jack Hale in der Port Street

Von: Vitsœ

Fotos: Jordan Bunker und The Modernist Society

Manchester im Nordwesten Englands hat eine erstaunliche Fülle kultureller, wissenschaftlicher und sozialer Errungenschaften hervorgebracht – Leistungen, die manch einer Hauptstadt zur Ehre gereichen würden. Ebenso beeindruckend ist die reiche, vielgestaltige Architektur der Stadt, die sich über zahlreiche Epochen erstreckt und derzeit eine neue Blüte erlebt. So entsteht ein Stadtbild, in dem viktorianische Lagerhäuser Seite an Seite mit eleganten Glasbauten stehen. Ein großer Teil des Zentrums wird noch immer von roten Backsteinfabriken und prachtvollen Gebäuden geprägt, die an die Hochphase der industriellen Revolution erinnern. Wer durch die Seitenstraßen und Gassen schlendert, könnte sich leicht in Lower Manhattan wähnen – ein Eindruck, der auch Filmteams nicht entgeht, die hier regelmäßig New-York-Szenen drehen.

Für Jack Hale und Eddy Rhead von der Modernist Society ist es die Nachkriegsarchitektur Manchesters – geprägt von funktionalen Gebäuden aus Stahl, Glas und Beton – die ihre Leidenschaft entfacht.

Die Modernist Society ist eine gemeinnützige Organisation, die sich der Würdigung und Vermittlung der Architektur des 20. Jahrhunderts und ihrer Philosophie verschrieben hat. Sie ist vieles zugleich: Magazin, Verlag, Online- und Ladengeschäft, Galerie, Reiseveranstalter, App-Entwickler – und bisweilen auch Denkmalschützer. Vor allem aber ist sie eine Gemeinschaft. Jack und Eddy arbeiten in einem der ältesten Gebäude der Stadt. Sie sind bescheiden, geerdet, mit trockenem Humor und enzyklopädischem Wissen. Ihr Hauptsitz ist ein geschäftiges Labyrinth, das sich über drei Stockwerke eines ehemaligen Weberhauses erstreckt. Es ist erfüllt vom Lachen und Stimmengewirr der Menschen, die dort arbeiten (als Freiwillige, Redakteure oder Gestalterinnen), sowie der Besucher und Besucherinnen des Geschäfts im Erdgeschoss.

Das Zuhause der Modernist Society

Die Manchester Modernist Society entstand Ende der 2000er Jahre – zunächst als Idee, die, wie Jack sagt, ihm „immer irgendwie im Hinterkopf herumschwirrte“. Er war der Meinung, dass es in Manchester „nicht genug architektonische Aktivitäten gab: kein Designmuseum, kein Architekturzentrum, keine Veranstaltungen, nichts, das sich wirklich mit Architektur beschäftigte“. Eines Tages sprach er mit seiner Freundin und späteren Mitbegründerin Maureen Ward über ein Kunstprojekt mit Telefonzellen. Zu dieser Zeit gab es in Manchester nur noch vier der klassischen roten K6-Telefonzellen. Dieses Gespräch machte ihnen bewusst, dass sich ihr Interesse besonders auf die Architektur der 1940er bis 1970er Jahre richtete – eine Epoche, der kaum Beachtung geschenkt wurde. Die wenigen verbliebenen, vernachlässigten Telefonzellen wurden für sie zum Sinnbild der stiefmütterlich behandelten Nachkriegsarchitektur Manchesters. „Für uns symbolisierten sie das allgemeine Desinteresse der Stadt an ihren Bürogebäuden der 1960er Jahre“, erinnert sich Jack. So nahm das Projekt Gestalt an. „Anfangs nannten wir uns fast im Scherz The Manchester Modern Society“, erzählt er weiter, „doch bald dachten wir: Warum nicht eine echte Organisation daraus machen? Nur – für einen eingetragenen Verein braucht man eben drei Personen …“

Deshalb kam Eddy dazu. „Ich leitete damals die Nordwestgruppe der Twentieth Century Society – eine Aktions- und Lobbygruppe. In Manchester verloren wir damals viele Bauten aus der Nachkriegszeit, und ich kämpfte gegen Bauträger und Behörden. Das war ziemlich ermüdend. Gerade als ich beschloss aufzuhören, erzählte mir jemand: ‚Ich habe diese Modernisten auf Facebook gesehen …‘ Das sprach mich an, weil es etwas Positives war, etwas Kreatives. Jack und Maureen kamen aus dem Kunstbereich, ich aus der Architekturgeschichte. Ich kannte die Daten, Namen und Hintergründe. Das ergänzte sich gut.“

K6-Telefonzellen, St. Peter’s Square

Von da an nahm das Projekt Fahrt auf. „Unsere erste Veranstaltung war ein Picknick“, erzählt Jack. „Wir haben einfach online geschrieben: ‚Wir treffen uns auf dem St. Peter’s Square‘. Maureen hat Kekse in Form von Gebäuden gebacken, und etwa 35 Leute sind gekommen. Da wussten wir: Das sind unsere Leute. Danach organisierten wir jeden Monat eine Aktivität. Wir zeigten Filme aus dem North West Film Archive und arbeiteten mit Kunststudierenden zusammen, um ein kleines Heft zu gestalten: ein A bis Z des Modernismus in Manchester.“

Diese unscheinbare erste Veröffentlichung führte schließlich zum Magazin the modernist, einem liebevoll gestalteten quadratischen Quartalsmagazin, das inzwischen über fünfzig Ausgaben zählt und seit fast fünfzehn Jahren erscheint. Es versammelt besondere Details und kaum bekannte Einblicke in die Architekturgeschichte – vom Design von Abfallbehältern bis zu Autobahnraststätten und Gartenlauben. Das Magazin war von Beginn an vom Gründertrio (Maureen stieg nach fünf Jahren aus) als unabhängiges Projekt konzipiert: ohne Werbung, getragen allein von der Großzügigkeit und Begeisterung seiner Autorinnen, Fotografen und Expertinnen. Eddy sagt: „Es hat etwas Ehrliches an sich – und die Menschen spüren das. Wir sind eine gemeinnützige Organisation und könnten nicht weiterbestehen, wenn nicht so viele Menschen bereit wären, ihre Zeit und ihr Wissen beizutragen. Wirtschaftlich ergibt das Magazin keinen Sinn. Es funktioniert, weil die Leute ohne Bezahlung mitmachen.“

Die erste und die neueste Ausgabe des Magazins the modernist

Der Erfolg des Magazins zeigte Jack und Eddy, dass sie mit ihrer Leidenschaft nicht allein waren. „Eines Tages“, erinnert sich Eddy, „bekamen wir eine Bestellung aus Australien. Wir fragten uns: Wer sind diese Menschen, die sich für die gleichen merkwürdigen Dinge interessieren wie wir?“ Diese Erkenntnis war wichtig. Denn es gibt universelle Aspekte des Modernismus, mit denen sich Menschen unterschiedlichster Herkunft identifizieren können. „Wir haben einen eingefleischten Fan in Südkorea“, sagt Eddy. „Ein Anwalt in Chicago kauft jede Ausgabe. Das berührt uns. Viele Menschen haben durch das Magazin entdeckt, dass sie nicht allein sind mit ihren eigenwilligen Interessen. Früher dachten sie: ‚Ich bin der Einzige, der sich für sowas begeistert.‘ Und dann schlagen sie unser Magazin auf und sehen: ‚Ah! Ein Artikel über Mülleimer.‘“ Die Popularität des Magazins führte schließlich zu einer unerwarteten Begegnung. Ein Fan, der von seinem Interesse wusste, schickte dem ehemaligen Gitarristen von The Smiths, Johnny Marr, ein Exemplar. Jack erinnert sich: „Ich kam eines Mittags ins Büro zurück – und er stand einfach draußen!“ Marr schloss sich dem Schriftsteller und Rundfunksprecher Jonathan Meades als offizieller Schirmherr der Gesellschaft an.

Eine bedrohte Ikone: das Renold Building aus dem Jahr 1962 in Manchester

All dies spiegelt die wachsende öffentliche Wertschätzung für die Architektur der Moderne wider – Bauten, die früher oft als Schandflecken galten. Kürzlich wurde in London das erste Museum für brutalistische Architektur angekündigt. Auch die Modernist Society ist längst über Manchester hinausgewachsen, daher ihr heute schlichterer Name. Inzwischen gibt es von Freiwilligen geführte Ableger in Städten wie Birmingham, Liverpool, Leeds, Swansea, Sheffield, Glasgow und – seit diesem Jahr – auch in Bristol. „Das Phänomen der ‚instagrammbaren‘ brutalistischen Gebäude der letzten zehn Jahre ist enorm“, sagt Jack. Eddy ergänzt: „Wir können uns nicht den ganzen Verdienst zuschreiben, aber ein kleiner Teil davon gehört sicher uns. Es ist ein globales Phänomen, und wir sind ein Teil davon. Wir feiern diese Gebäude, wollen sie aber zugleich im Kontext verstehen: warum sie entstanden sind und welchem Zweck sie dienten.“

Darin zeigt sich die Haltung, die Jack und Eddy am Modernismus so fasziniert. „Es ist der Optimismus“, sagt Jack. „Die Pioniere des Modernismus – Dieter Rams ist wohl das beste Beispiel – wollten das Leben der Menschen verbessern: durch Architektur, Design, gute Planung oder durch klare Ideale.“ Eddy ergänzt: „Das ist es, was wir an dieser Zeit schätzen – besonders in Großbritannien. Der Optimismus der Nachkriegsjahre, der Aufbau des Sozialstaats, die zahlreichen staatlich geförderten Projekte. Damals beauftragte man jemanden wie den Industriedesigner David Mellor, einen Mülleimer für den öffentlichen Raum zu entwerfen. So etwas gibt es heute kaum noch – dass ein Spitzen-Designer mit einer Aufgabe betraut wird, die so alltäglich und zugleich so universell ist. Das war nie elitär. Uns fasziniert das Gewöhnliche – und wie der Modernismus das tägliche Leben durchdrang.“

Ein Schatz an Wissen im the modernist-Geschäft

Es steckt etwas Pädagogisches in dem, was Jack und Eddy tun. Nicht zuletzt durch ihre Bücher. „Natürlich“, sagt Eddy. „Aber auf eine spielerische, zugängliche Weise.“ Als Verlag hat the modernist inzwischen über vierzig Titel veröffentlicht. Zu den jüngsten gehören Bücher über Typografie in den Midlands, europäische Autos, die „Spaghetti Junction“ in Birmingham, funktionalistische walisische Hütten und eine neue Studie zum schottischen Modernismus. Die Pandemie im Jahr 2020 machte sie zu ernsthaften Verlegern. „Als der Lockdown kam, lagen unsere Kernaktivitäten plötzlich still“, erzählt Eddy. „Das Verlegen hielt uns beschäftigt. Wir konnten alles von zu Hause aus tun – und dank Digitaldruck kleine Auflagen schnell produzieren.“ Wie ihr Magazin entstehen auch ihre Bücher durch ein Netzwerk wohlgesinnter Partner. „Es geht wieder um guten Willen“, sagt Eddy. „In Manchester herrscht diese Haltung: Wenn es sonst niemand macht, machen wir es eben selbst. Wenn die Leute sehen, dass man es aus den richtigen Gründen tut, kommen sie mit. So ist Manchester.“

Der Erfolg im Verlagswesen führte zu neuen Veranstaltungen – darunter die jährliche Modernist Book Fair, die sie für gleichgesinnte Verlage organisieren. Sie findet im Vitsœ-Geschäft in Marylebone in London statt. Und auch digital ist die Gesellschaft aktiv geworden: Mit der App the modernist können Nutzerinnen und Nutzer kostenlos die britische Architektur des 20. Jahrhunderts erkunden: geführte Spaziergänge durch zahlreiche Städte, per Karte auf dem Smartphone und, wie das Magazin, völlig werbefrei.

Die Modernist Book Fair bei Vitsœ

Man könnte sagen, dass Jacks und Eddys Hingabe an Vergangenes von einer leisen Nostalgie begleitet ist. Für sie geht es jedoch eher darum, nach vorne zu blicken, nicht zurück. Jack fasst es so zusammen: „Viele dieser Ideen sind inzwischen selbstverständlich geworden. Noch vor nicht allzu langer Zeit war es für viele unvorstellbar, in einem Hochhaus zu leben – sie dachten nur an verfallene Sozialwohnungen. Heute ist das völlig normal. Natürlich gibt es Dinge, die wir aus ökologischen Gründen ändern müssen – vielleicht sollten wir Holz statt Beton verwenden – aber es kann trotzdem zukunftsorientiert, modern und hochtechnologisch sein.“

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Die Modernist Book Fair findet am 17. und 18. Oktober im Vitsœ Geschäft in London statt – der Eintritt ist frei:

• Freitag, 17. Oktober, 10:00–20:30 Uhr (verlängerte Öffnungszeiten):
Magazinvorstellung und Empfang mit Getränken ab 18:30 Uhr – „the modernist“, Ausgabe 55
• Samstag, 18. Oktober, 10:00–18:00 Uhr

Vitsœ
21 Marylebone Lane
London
W1U 2NG
Großbritannien