Aus Liebe zum Archiv
Alles an seinem Platz und alles zu seiner Zeit, in der City of London

James Nye,
Vorsitzender der AHS

Worte: Jane Audas

Fotos: Vitsœ

Es ist ein ungeschriebenes Gesetz, dass alle, die in der Welt von Vitsoe aktiv sind, eine Liebe zum Detail haben und sich dafür interessieren, wie die Dinge funktionieren und warum sie so aussehen, wie sie das tun. Kunde James Nye ist seit seinem 13. Lebensjahr damit beschäftigt, das Wesen von Uhren und Zeitmessung zu durchdringen. Weit über ein normales Arbeitspensum hinaus sind seine Tage damit angefüllt, mit Uhren zu arbeiten, sie zu erforschen und über sie zu schreiben. James ist Vorsitzender der Antiquarian Horological Society, die kürzlich ihr neues Hauptquartier in der 4 Lovat Lane in der City of London bezogen hat.

Die vierteljährlich erscheinende Zeitschrift „Antiquarian Horology“

Aus Gründen der Kürze, besseren Lesbarkeit und Aussprache ist die Antiquarian Horological Society allgemein als AHS bekannt. Sie ist eine 1953 gegründete gemeinnützige Einrichtung – nein, ein Gelehrtenverein. Die mehr als 1.500 Mitglieder sind Menschen aus aller Welt, die sich für die Geschichte der Zeitmessung interessieren: Kuratoren, Autoren, und Sammler. Andere haben beruflich mit Uhren zu tun, wie zum Beispiel Auktionatoren. AHS-Mitglieder sehen sich als die akademischsten unter den Uhrengesellschaften. Sie sind bekannt für ihre mächtige Fachzeitschrift Antiquarian Horology, die vierteljährlich erscheint, sowie für ihre laufende Reihe von schönen Vorträgen zu Nischenthemen – alles von „Wie man eine Atomuhr herstellt“ zu „Das Fälschen englischer Uhren“.

Innerhalb der Gesellschaft gibt es spezialisierte (tatsächlich, noch spezialisiertere) Unterabteilungen und Gruppen. Die neueste ist die Armbanduhr-Gruppe – denn als die Gesellschaft gegründet wurde, waren Armbanduhren noch etwas verpönt. Es gibt auch eine Turmuhren-Gruppe (Menschen, die von öffentlichen Uhren fasziniert sind), die jede Gelegenheit wahrnimmt, um „auf Türme zu steigen“. Die Gruppe für elektrische Uhrmacherei, die James seit 22 Jahren leitet, interessiert sich besonders für Zeitübertragung (oder dafür, wie es möglich ist, dass wir überall die gleiche Zeit haben, und welche Maschinen dazu notwendig sind).

Der restaurierte Eingang zu 4 Lovat Lane


4 Lovat Lane, oder 4LL (Akronyme sind sehr beliebt in der AHS), war Liebe auf den ersten Blick. „Schon als wir draußen standen, hatten alle Anwesenden das richtige Gefühl“, sagt James. Die Gegend ist durchdrungen von der Geschichte der britischen Uhrenindustrie: seit dem 17. Jahrhundert ist die City of London das Zentrum aller Dinge, die uns die Zeit ansagen.

4LL bestand ursprünglich aus zwei Gebäuden: 4-5 Lovat Lane, zwei Häusern aus dem frühen 19. Jahrhundert, die in den 1970ern sehr unsensibel zusammengelegt wurden. Die getrennten Eingangstüren gingen verloren und wurden durch eine einzige Tür und eine Treppe in einem grausamen „brutalistischen Sarajewo-Hotel-Stil“ in der Mitte der beiden Gebäude ersetzt. Nur die Fassade ist von der ursprünglichen Architektur übriggeblieben; sie steht heute unter Denkmalschutz. Lovat Lane verbindet Eastcheap mit der Lower Thames Street. Es ist eine dieser reizvollen engen Londoner Gassen, in der man das Gefühl hat, man müsse sich nur umschauen, um Charles Dickens zu sehen, wie er in seinem Mantel nach der Pfeife kramt.

Neues, zeitgemäßes Treppenhaus


Die AHS hat beide Gebäude entkernt und eine neue, geschwungene Wendeltreppe gebaut, die die Häuser verbindet. Sie hat viel Zeit und Mühe in ihr neues Zuhause ‚für die Ewigkeit‘ investiert. Die Räumlichkeiten werden die Bibliothek und das Archiv der Gesellschaft beherbergen, einen Platz für Meetings und Vorträge bieten, und als Zentrum für alles dienen, was mit Uhren zu tun hat.

44 Jahre lang lag das Zuhause der AHS am Ende der Welt, in Ticehurst, East Sussex. Aber die Rückkehr nach London macht viel Sinn, vor allem für die Wissenschaftler und ehrenamtlichen Mitarbeiter, die die Gesellschaft am Laufen halten. Als die AHS in 4LL einzog, halfen 23 dieser Mitarbeiter dabei, vier Transportladungen Bücher und Archivmaterialien auszuladen und die Treppe hinauf in ihr neues Zuhause zu tragen. Die nächste große Aufgabe (für die schon weitere Freiwillige gesucht werden) ist, das Archiv zu organisieren und zu ratifizieren. Und es dann schön in die Regale zu stellen.

Mitten im Archivierungsprozess

Zu den Materialien, die unter dem Mansardendach von 4LL untergebracht werden, gehören einerseits das Archiv der Gesellschaft selbst (Protokolle und solche Dinge), und andererseits Sammelauflagen von Magazinen und Fachzeitschriften, wie zum Beispiel die schicken, in königsblauem Leinen gebundenen Ausgaben des Chronos Magazins aus den 1950er Jahren. Es ist ein „elegantes Schaufenster für die Welt der Uhrmacherei“, das noch heute gedruckt wird.

Auch private Archive, die der Gesellschaft hinterlassen wurden, oft von ehemaligen Mitgliedern, gehören zur Sammlung. James erklärt: „Ein Beispiel für so ein Privatarchiv, das bei uns gelandet ist, ist das eines Beamten, der viele Jahre lang im Verteidigungsbereich in der Nähe von Bristol gearbeitet hat. Er hat Büromaterial ‚umgenutzt‘ und viele Dinge aufgehoben, darunter eine riesige Anzahl von fotokopierten Formularen aus einer Umfrage, die er in den 1970er Jahren durchführte. Eine Umfrage, die ich sehr gut kenne.“ Diese Sammlung ruht nun in einer Reihe recycelter (wir wollen nicht sagen: gestohlener) Archivorder, die nostalgische Markennamen wie „Swifta Box File“ tragen. Eine andere Sammlung, die darauf wartet, in Regale eingeordnet zu werden, besteht aus Zeitungsausschnitten – genug für ein ganzes Lebenswerk – die in Sammelalben verschiedenster Formate und Größen eingeklebt wurden. Einige der Alben haben ihre eigene archivarische Nomenklatur; ein Mr Frederickson, zum Beispiel, hat seinem ersten Album den würdevollen Namen „Uhrensammlung Nr. 1“ gegeben.

Ein Raum voller Erinnerungsstücke

Bei der AHS weiß man, dass diese über viele Jahrzehnte gesammelten Forschungsmaterialien in eine Form gebracht werden müssen. Am besten so, dass sie „arrangiert, katalogisiert und sortiert werden können, damit wir wissen, was wir haben. Im Moment haben wir einen Raum voller Kisten. Es wird Jahre dauern, alles zu entdecken, was da auf uns wartet.“ James hofft, dass der Prozess des Aussortierens und Aussiebens beginnt, wenn das Archiv aus den Boxen gepackt und in die Regale einsortiert wird, und dass sie am Ende „meterweise Kistenordner haben werden, schön geordnet“. Über die Qualität moderner Büromaterialien will er erst gar nicht reden. „Viele moderne Aktenorder sind einfach Schrott. Bei diesem ganzen Projekt geht es um Langfristigkeit, bis hin zu den Ordnern, in denen wir Sachen aufbewahren. Sie müssen von hoher Qualität und konservatorisch geeignet sein.“

Tatsächlich gibt es in der ganzen 4LL nur eine einzige Uhr, alle größeren Sammlungen sind anderswo untergebracht. Ein wunderbares Museum namens „The Clockworks“ in West Norwood, Südlondon, beherbergt eine Sammlung von elektronischen Zeitmessgeräten (die, ganz nebenbei, auf sehr schönen Regalen liegen). James sagt, dass es „das einzige Museum auf der Welt ist, dass sich ganz diesem sehr spezifischen Bereich der elektrischen Zeitmessung ab etwa 1840 widmet.“ Das Londoner Science Museum beherbergt The Clockmaker’s Museum, dessen Sammlung der 1631 gegründeten Worshipful Company of Clockmakers angehört. James ist (nicht ganz zufällig) „Wächter“, oder Renter Warden, der Gilde.

Die Uhrensammlung in „The Clockworks“


James hat einen größeren Teil seines Lebens mit Uhren und Zeitmessung verbracht als die meisten Menschen. „Als ich in den 1970er Jahren in Sussex zur Schule ging, war der stellvertretende Kaplan ein Uhrmacher. Die Hälfte des Erdgeschosses in seinem Haus war seiner Werkstatt gewidmet. Diejenigen von uns, die nicht so gut Fußball oder Rugby spielen konnten, durften nachmittags bei ihm lernen, wie man Uhren repariert. Ich mache das also, seit ich 13 bin.“ Er lernte nicht nur „konventionelle uhrmacherische Reparaturtechniken“, sondern übernahm auch Verantwortung für die Synchronisation der Uhren in der ganzen Schule. „Eine einzige Uhr im Zentrum der Schule sendete einen Impuls an alle anderen Uhren in den verschiedenen Klassenzimmern, um den Anfang und das Ende der Unterrichtsstunden zu signalisieren. Das habe ich programmiert.“ Offensichtlich war das der Anfang seiner Begeisterung für die elektrische Zeitmessung, die ihn seitdem nicht mehr losgelassen hat. Obwohl er erst in seinen 30ern Mitglied der AHS wurde, war er schon als Teenager Mitglied der British Horological Society. Uhren nehmen „alle Stunden des Wachseins, sieben Tage in der Woche“ in Anspruch.

James ist zurzeit ein paar Mal pro Woche in der AHS anzutreffen. Der Umzug in die 4LL wird die Arbeit der Gesellschaft fokussieren und ihr neue Energie verleihen. Das Gebäude selbst dürfte all die Gespräche und Aktivitäten rund um Zeit und die Herstellung von Uhren dankbar aufsaugen, war es doch schon immer ein Handels- und Wohnort. Drei Generationen von Schornsteinfegern haben hier gelebt. Frisöre und Barbiere, Schuhmacher und schließlich Schadensregulierer haben alle in der 4LL gearbeitet, bevor die AHS einzog. James beschreibt, wie herrlich es sich anfühlt, auf der neuen Treppe vor dem Haus zu stehen, den Geräuschen der City zu lauschen (auf Lovat Lane fahren keine Autos), und St Mary-at-the-Hill, die benachbarte von Sir Christopher Wren entworfene Kirche, zu bewundern. Die Gesellschaft hat nichts gefunden, was darauf hinweist, dass in der Lovat Lane jemals Uhren hergestellt wurden. Trotzdem sind sie, wie James sehr gut weiß, ein wesentlicher Teil der Geschichte, Substanz und Luft dieses Stadtteils, dem neuen Zuhause der AHS.