Eine eng verstrickte Gemeinschaft
Wie einfache, authentische Qualitätskleidung ein ländliches Familienunternehmen in Japan wiederbelebt hat

Von: Megumi Yamashita

Fotos: Siehe unten

Von Tokio aus erreicht man Yamanobe, im südlichen Teil der Präfektur Yamagata gelegen, in etwa drei Stunden mit dem Hochgeschwindigkeitszug. Die von Bergen umgebene und mit fruchtbaren Böden gesegnete Region ist bekannt für Obst- und Reisanbau. Auch die Zucht von Seidenraupen und das Färben von Textilien haben eine lange Geschichte dort. Die Schafzucht wurde etwas später eingeführt. Während und nach dem Zweiten Weltkrieg wurden handgestrickte Wollwaren verkauft oder gegen Lebensmittel getauscht, um den Lebensunterhalt der Region zu sichern. Später wurden mechanische Strickmaschinen eingeführt und die Gegend entwickelte sich zu einem florierenden Zentrum für gestrickte Textilien.

„Ich hatte nie die Absicht, das Familienunternehmen zu übernehmen“, gesteht Ken Oe, während er zwischen Regalreihen umhergeht, auf denen Stapel von bunten Jacken und Pullover liegen. Er ist der Geschäftsführer des von seinem Großvater gegründeten Unternehmens „Yonetomi Seni“, das Strickwaren herstellt. Seit er das Geschäft übernahm, hat er originelle Kollektionen entworfen und einen Flagship-Store direkt neben der Fabrik eröffnet.

Kens Großvater gründete die Firma Yonetomi Seni im Jahr 1952, die zu ihrer Blütezeit etwa 300 Menschen beschäftigte und die größte Strickerei in der Region Yamagata war. Viele Jahrzehnte lang arbeitete die Mehrheit der Einwohner von Yamanobe in der Textilindustrie, doch in den 1990er Jahren begann der allmähliche Niedergang der Branche. Heute, da billigere Produkte aus anderen Ländern (wie z.B. China) auf dem Markt sind, liegt die Auslastung nur bei etwa einem Achtel ihrer eigentlichen Kapazität.

Nach dem Studium arbeitete Ken zunächst bei TOMORROWLAND, einer bekannten Modemarke in Tokio. „Viele der hochwertigen Produkte, die dort verkauft wurden, wurden nicht in Japan hergestellt. Ich fragte mich, warum japanische Fabriken schließen mussten, obwohl sie ebenso gute Produkte herstellen konnten. Einige Traditionsunternehmen – John Smedley in Großbritannien zum Beispiel – stellen neben ihren eigenen Labels auch Waren für andere Marken her. Bei unserer Fabrik hielt ich es für wichtig, hauseigene Produkte zu entwickeln, um unsere Fähigkeiten und unsere Handwerkskunst auf dem neuesten Stand zu halten. Nachdem ich mit meinem Vater, der damals Geschäftsführer war, über die Zukunft des Familienunternehmens gesprochen hatte, beschlossen wir, unser eigenes Label zu gründen.“

2007 kehrte Ken in seine Heimatstadt zurück, um das Familienunternehmen wieder aufzubauen und 2010 wurde COOHEM, Kens erstes eigenes Label, gegründet. Er experimentierte damit, Kombinationen verschiedener Garnarten in die computergesteuerten Strickmaschinen einzuspeisen. Dank dieser Innovation und dem handwerklichen Geschick der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen sehen die Jacken und Pullover von COOHEM eher so aus, als wären sie aus gewebtem Tweed hergestellt statt aus gestricktem Garn.

Die Produkte werden online, im Großhandel und bei Pop-up-Events verkauft und haben inzwischen große Popularität erlangt. Im Jahr 2016 gewann COOHEM sogar den Tokyo Fashion Award, der einen großen Beitrag zur weiteren Bekanntheit der Kollektionen leistete. Mitten in der Pandemie, als das Geschäft ruhiger war, brachte Ken zwei weitere Labels auf den Markt: THISISASWEATER, für minimalistische, hochwertige Unisex-Pullover, und YONETOMI, eine erschwinglichere, lässige Unisex-Marke.

Kens nächstes Ziel war es, ein Geschäft für alle drei Labels zu eröffnen, in dem auch andere Produkte, die dem Ethos des Unternehmens entsprechen, verkauft werden können. „Als ich einen lokalen Pop-up-Verkauf veranstaltete, kamen viel mehr Leute, als ich erwartet hatte, möglicherweise hatten sie über Instagram davon erfahren. Vor der Pandemie wollten die meisten jungen Leute unbedingt in die großen Städte ziehen. Die Pandemie hat dies geändert: viele Menschen kehren zunehmend in ihre Heimatstädte zurück oder ziehen aus den großen Städten in ländliche Gebiete. Als Ken nach Yamagata zurückkehrte, lebten kaum junge Menschen in der Gegend, aber allmählich findet ein demographischer Wandel statt. Ein Drittel der aktuellen Bevölkerung ist zwischen 20 und 40 Jahre alt.

„Obwohl hier nun mehr junge Leute leben, gibt es in Yamagata keine Kaufhäuser und nur wenige Orte, an denen man modische Kleidung kaufen kann. Ich erkannte, dass die Konkurrenz hier viel kleiner ist als in Tokio. Außerdem ist es praktisch, ein Geschäft in der Nähe der Fabrik zu haben, weil ich so unsere Kunden und Kundinnen häufig selbst bedienen kann.

„Nach meinen Erfahrungen bei TOMORROWLAND war es mir wichtig, einen Raum zu haben, in dem ich Produkte flexibel präsentieren kann. Ich beauftragte den Architekten Teppei Nomoto mit der Gestaltung der Inneneinrichtung des Ladens, und er schlug mir das Regalsystem 606 von Vitsœ vor. Es war eine perfekte Lösung, sowohl funktionell als auch ästhetisch. Es ist so einfach, die Auslage je nach Design oder Farben der Kollektion neu anzuordnen.“

Das Geschäft erstreckt sich über zwei Etagen. An der Wand hängt ein kühnes, vergoldetes Schild in traditioneller japanischer Kalligraphie, auf dem steht: „Mode ist Leben“. Es sind Worte von Kens Großvater, dem Firmengründer Ryoichi Oe, der erzählte, dass er bei seinem ersten Besuch in Europa von Fabrikarbeitern beeindruckt war, die stolz die in ihrer Fabrik hergestellten Strickwaren trugen. Er erkannte, dass Mode im täglichen Leben eine wichtige Rolle spielt.

Ken fährt fort: „Bei meinem vorherigen Job in Tokio waren die meisten meiner Kollegen und Kolleginnen jung und sehr modebewusst. Im Gegensatz dazu sind unsere Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen viel älter und arbeiten hier, weil sie in der Nähe leben. Sie haben nicht unbedingt ein großes Interesse an modischer Kleidung. Ich wollte, dass alle hier stolz auf die Produkte sind, die wir herstellen und dass wir sie auch tragen – denn es sind unsere Produkte. Mode soll nicht exklusiv sein, sondern ein Teil des Lebens aller Menschen. Es ist mir wichtig, unsere Belegschaft zu inspirieren und so das Ethos unseres Gründers am Leben zu erhalten.”

„Als ich die Regale von Vitsœ kennenlernte, erfuhr ich auch etwas über ihren Gestalter, Dieter Rams. Das Kernkonzept von THISISASWEATER, eines unserer Labels, ist „authentische, einfache Alltagsgegenstände von höchster Qualität“ und unser Ziel ist es, zeitlose Produkte herzustellen. Darüber hinaus bieten wir die kostenlose Reparatur aller unserer Waren an. Ich sehe da eine Ähnlichkeit mit Rams Mantra: „Weniger, aber besser“.“

Viele Kunden und Kundinnen reisen aus Tokio an, um Kens Laden zu besuchen, und auch eine Besichtigung der Fabrik ist sehr beliebt. Das Archiv beherbergt eine beeindruckende Ausstellung von zehntausenden Strickwaren, die seit der Gründung des Unternehmens gesammelt wurden. Ken organisiert regelmäßig einen Markt im Freien vor dem Geschäft, in dem auch andere lokale Unternehmen, wie z.B. der bekannte Holzmöbelhersteller Tendo Mokko, ihre Waren verkaufen. „Es trägt zur Wiederbelebung der Umgebung bei“, sagt er. „Viele der Unternehmen werden von Geschäftsinhabern in zweiter oder dritter Generation geführt, genauso wie unseres“.

Ken ist nicht der Meinung, dass seine Wiederbelebung von Yonetomi Seni außergewöhnlich ist: „Das passiert nicht nur in Yamagata, sondern wir sehen immer mehr Fälle, in denen Unternehmer und Unternehmerinnen der zweiten und dritten Generation die Herausforderung annehmen, Familienbetriebe in ländlichen Regionen wiederzubeleben. Aus den Städten kommen immer mehr Kreative, um für diese Projekte zu arbeiten. Wir beobachten den Beginn einer neuen Bewegung außerhalb der großen Städte.“

Neben der Textilindustrie blickt Yamagata auf eine reiche Geschichte traditionellen Kunsthandwerks und modernen Designs zurück. Das Handweben von Reisstroh, zum Beispiel, hat tiefe Wurzeln in der Region. Früher, als die Felder in der Umgebung im Winter noch mit Schnee bedeckt waren, stellten Reisbauern traditionell Gegenstände wie Winterstiefel und Lebensmittelverpackungen aus Stroh her.

Aber das Leben auf dem Land hat sich in den letzten Jahrzehnten auch stark verändert und traditionelle handwerkliche Fertigkeiten drohen zu verschwinden. Andererseits ist es ermutigend, dass eine neue Generation von Kreativen ihr Erbe wertschätzt und den Weg für Erneuerung ebnet.

Yonetomi Store
1136 Oazayamabe Yamabe-cho Higashimurayama-gun,
Yamagata 990-0301 Japan
Geöffnet: Donnerstag bis Montag 11:00 – 18:00
Geschlossen: Dienstag und Mittwoch
yonetomistore.jp

Foto Credits
Akaoni und Studio Xxingham; ©Isao Negishi; ©Ko Tsuchiya; Megumi Yamashita