Kopf und Herz im Ding vereint
Wohnen und Leben mit Design: Hans-Gerd Grunwald begeistert sich für die Geschichten hinter den Alltagsgegenständen, die er sammelt.

„Voll“-Bakelite-Telefon von J. Heilberg / J.C. Bjerknes, 1930/31 für Ericsson, hier in einer 1950er-Ausführung der Britischen Post. Daneben: Zwei Küchenuhren mit Kurzzeitmesser von Max Bill / Ernst Moeckl, HfG Ulm, 1957 für Junghans

Worte: Sophie Lovell

Fotos: Hans-Gerd Grunwald

Hans-Gerd Grunwalds Jugenderinnerungen sind wie die vieler seiner Generation von den demokratischen Designikonen der 1960er/70er Jahre in Deutschland geprägt – beispielsweise dem Erscheinungsbild der Olympischen Spiele 1972 in München oder der Haushaltsprodukte von Braun.

Durch seine berufliche Erfahrung in der Produktentwicklung und dem wachsendem Interesse an Designgeschichte wurde er dank Fernkursen und eigenen Recherchen zu einem Experten auf diesem Gebiet. Schließlich ergriff er die Chance, frühzeitig aus der Automobilindustrie auszuscheiden und sich ganz dieser ersten Liebe zu widmen: So wurde aus seinem Hobby (Freunde und Bekannte durch Museen zu führen) ein neuer Beruf – als spezialisierter Guide durch die Neue Sammlung im Münchner Kunstareal, eine der größten und bedeutendsten Sammlungen angewandter Kunst der Welt.

Olympia-Waldi und Ulmer Hocker-Modell inmitten von HfG Ulm- bzw. Otl Aicher-Arbeiten, z.B. für Isny und die Firmen Lufthansa, Gardena, FSB und Thomas

Seine Münchner Zweizimmerwohnung im Stadtteil Schwabing bezog Grunwald 2016. „Ich habe mich schon seit langem für gute Möbel interessiert und vor rund 25 Jahren begonnen, Dinge mit Designwert zu sammeln“, erklärt er, „als ich meinen ersten Wassily Sessel von Marcel Breuer kaufte. Dann kamen maßstabsgetreue Automodelle und ein AEG-Wasserkocher von Peter Behrens aus dem Jahr 1909 dazu, den ich auf einem Flohmarkt fand. Ich besitze auch eine Sammlung von Miniaturmöbeln im Maßstab 1:6 von Vitra. Ich habe in meiner Wohnung nicht genug Platz für alle Möbel, die mir gefallen, deshalb kaufe ich stattdessen manchmal einfach ein Modell.“

Sein besonderes Interesse gilt der HfG Ulm, der von 1953 bis 1968 existierenden Hochschule für Gestaltung, gegründet von Inge Aicher-Scholl, Otl Aicher und Max Bill, einem ehemaligen Bauhaus-Studenten. Während ihres kurzen Bestehens war die Schule bahnbrechend in ihrem rationalen und systemorientierten Ansatz für Industriedesign und visuelle Kommunikation. Hier wurde ein Großteil der Gestalter ausgebildet, die als Pioniere der Designrevolution galten, die Mitte der 1950er Jahre bei Braun stattfand und die einen jungen Dieter Rams in seiner Haltung stark beeinflussten. Eines der ersten Produkte, das Rams bei Braun bekannt machte, war die SK 4 Radio-Plattenspieler-Kombination – der sogenannte Schneewittchensarg aus dem Jahr 1956, an dem er zusammen mit Hans Gugelot arbeitete, der Produktdesign an der HfG Ulm lehrte und zu jener Zeit einige Braun-Produkte gestaltete.

Designbeispiele aus den 1960ern von Robert Oberheim und Dieter Rams. Darüber: Wasserkessel von Behrens (1909) und Sapper (1983), eine Taschenlampe von Gugelot (1964) und Maurers „Lucellino“ (1992)

Angeregt durch seine Führungen für die Neue Sammlung erwarb Grunwald auch Vintage-Braun-Produkte wie Haartrockner, Kameras und Rasierer. „Ich habe alle Rasierer-Modelle von 1950 bis zum ‘Sixtant’ von 1962“, sagt er, „weil es interessant ist, durch sie die Entwicklung eines Produkts zu beobachten. Wenn ich eine Führung mache, nehme ich manchmal einen Rasierer mit und öffne ihn, um zu zeigen, wie er hergestellt wurde und wie intelligent das Design ist.“

Ein Lieblingsstück von Grunwald ist die Kleinbild Sucherkamera „Werra“ entworfen 1953, vom VEB Carl Zeiss Jena in DDR. „Mir gefällt, dass das Design wirklich sehr, sehr einfach ist. Sie sieht aus wie ein Braun-Objekt – wie es von Dieter Rams oder Otl Aicher oder Hans Gugelot entworfen worden sein könnte –, aber sie wurde zwei oder drei Jahre vor Beginn der neuen Designlinie bei Braun vom Werkskonstrukteur Rudolf Müller entworfen. Ihre außergewöhnlich geradlinige, puristische Form, die Vorderseite im Goldenen Schnitt gestaltet und der Auslöser als einziges Steuerelement auf der Oberseite – wie eine Art ‘Home-Taste’ – machen sie für mich zum Verlieben schön. Die restlichen Bedienelemente sind vor Regen geschützt und optisch aufgeräumt an der Unterseite versteckt, und die Schutzkappe kann auch als Gegenlichtblende verwendet werden.“

Amerikanisches Industriedesign (1930er) und vollendetes italienisches Glasbläser-Handwerk (1940er) begegnen DDR-Designklassikern (1950er).

Die Geschichte hinter Grunwalds Faszination für diese Kamera begann mit einer Installation, die im vergangenen Jahr von der Neuen Sammlung unter dem Titel „Der Sound des Wirtschaftswunders“ eingeführt wurde. Sie ermöglicht es Besuchern, die Geräusche von Geräten aus den 1950er und 1960er Jahren zu hören, die im Museum ausgestellt sind. In der Sammlung befinden sich rund zehn Objekte aus der DDR, darunter auch die Werra-Kamera. „Es war ein ziemlicher Schock für mich“, sagt Grunwald, „ich wurde vor 60 Jahren in Westdeutschland geboren und habe in den ersten 30 Jahren meines Lebens in einem geteilten Deutschland gelebt. Nach weiteren 30 Jahren in einem vereinten Deutschland wurde mir klar, dass ich Ihnen viel über skandinavisches oder italienisches Design erzählen könnte, aber dass ich so gut wie nichts über DDR-Design und -Produktion wusste. Also habe ich in der Museumsbibliothek recherchiert und mehr über diese Kamera herausgefunden und dachte: ‘Ich muss sie haben, sie ist ein wirklich bedeutendes Objekt’.“

Es sind nicht nur die Objekte selbst, die Grunwald am Herzen liegen, sondern ihr Kontext: die Geschichten und Umstände, die sie umgeben. Erst der Kontext verleiht Objekten Bedeutung und vermittelt dem Benutzer ein besseres Verständnis. Als er gebeten wurde, in der Neuen Sammlung, Führungen zu machen, gefiel ihnen die Idee, jemanden aus der Praxis zu engagieren, der Industriedesign aus einer ganz anderen Perspektive als der eines Kunsthistorikers erklären konnte, sagt er.

„Wenn man über Designobjekte spricht, gibt es einerseits die große Geschichte, die sich auf den historischen Stil bezieht. Andererseits sind da auch die vielen kleinen Geschichten von den Menschen, die sie entworfen und hergestellt haben. In der Kunst haben Sie es mit einem einzigen Künstler zu tun, der ein bestimmtes Bild gemalt hat. Im Design funktioniert das so einfach nicht: Ein industrielles Designobjekt wird niemals nur von einer Person allein erfunden. Nehmen Sie den Braun Sixtant-Rasierer, der für seine Schwarz-Silber-Farbkombination bekannt ist. Er hat diese Farbe, weil Erwin Braun und Fritz Eichler [Rams’ Vorgänger als Designleiter bei Braun] ein skandinavisches Besteck aus den 1950er Jahren mochten: Es war silbern mit schwarzen Kunststoffgriffen. Also schlug Eichler Hans Gugelot vor, auf Basis der Arbeit von Gerd Alfred Müller am SM3, diese Kombination beim SM31 Sixtant Rasierer auszuprobieren. Nachdem Müller Braun verlassen hatte, arbeitete er für den Stifthersteller Lamy, wo er für seine Entwürfe dieselbe Farbkombination verwendete. Ein Produkt steht niemals für sich allein. Das versuche ich, in meinen Führungen zu vermitteln.“

Besonders im Radio / Phono-Bereich bestimmte nicht zuletzt die rasante Technikentwicklung die Gestaltungsmöglichkeiten im Design. Hier trifft Rams‘ T41 (1962) auf den ersten Walkman (1979) sowie Apples iPod (2002) und iPhone (2007).

Die Anordnung von Grunwalds Sammlung in seiner Wohnung ist sehr spezifisch. Offensichtlich wurde viel darüber nachgedacht, wo jedes einzelne Objekt platziert wird. „Wenn Sie Ihr Berufsleben mit technischem Zeichnen beginnen, müssen Sie präzise sein. Also ja, ein Teil von mir mag Präzision“, erklärt er und fügt hinzu: „Es ist eine Gabe, aber manchmal auch eine Belastung. Es geht darum, wie ich Dinge und ästhetische Kompositionen wahrnehme. Ich war immer fasziniert von Wassily Kandinskys Werk – nicht so sehr von seinen Gemälden als vielmehr von seinen theoretischen Arbeiten zur Form wie ‘Punkt und Linie zu Fläche’ –, weil es mir zeigte, dass ein Konzept dahinter steckt, warum die Dinge auf eine bestimmte Art und nicht auf eine andere funktionieren. Im Laufe der Jahre habe ich ein Auge für Arrangements entwickelt. Beim Grafikdesign für ein Buch geht es allein darum, wie Sie Dinge arrangieren. Das gleiche gilt für Exponate in einem Museum oder eben den Inhalt Ihrer Regale zuhause.“

Einige der Objekte in seiner Sammlung wirken trotz ihres Alters fabrikneu, während andere die Spuren jahrelanger Nutzung tragen. Dieter Rams interessiert sich sehr für die traditionelle japanische Ästhetik von Wabi-Sabi, die Vergänglichkeit und Unvollkommenheit zelebriert – letztlich die Idee, dass ein Objekt erst durch Zeit und Gebrauch schön wird. Es mag widersprüchlich erscheinen, diesen Begriff nicht nur auf von Hand gefertigte Dinge, sondern auch auf Industrieobjekte anzuwenden, doch ist beiden gemeinsam, dass sie Werkzeuge für ihre Benutzer sind. Grunwald erläutert:

„Mein SK 4/1 zum Beispiel ist alt, sieht aber neu aus, wie frisch aus der Fabrik, weil er im Laufe der Jahre neu lackiert wurde. Ich habe mich für ihn entschieden, weil er ein so großes Objekt ist und ich das gleiche Gefühl haben wollte, das die Menschen in den 1950er Jahren gehabt haben müssen – nämlich das wirklich erste technische Objekt neben ihren Möbelstücken in ihrem Wohnraum zu haben. Auf der anderen Seite besitze ich ein 1955 von Fritz Eichler und Artur Braun entworfenes Braun SK 1 Radio, bei dem man die Gebrauchsspuren der vielen Jahre wirklich sehen kann und sich der Kunststoff stellenweise verfärbt hat. Mir gefällt es genauso, gerade weil es benutzt wurde. Es ist 65 Jahre alt und hat getan, wofür es gemacht wurde. Für mich existiert hier ein Gleichgewicht, ich kann mit beiden leben.“

Als Student lebte Richard Sapper in der Nähe von Hans-Gerd Grunwald. Hier zwei seiner Moka-Express Entwürfe für Alessi, zwischen der „Bialetti“ aus den 1930ern und Braun Kaffeemühlen von Reinhold Weiss, ehemaliger HfG Ulm-Student

Die präzise Organisation des Inhalts von Hans-Gerds Regalen erstreckt sich auch auf seine Küche. Sogar die Lebensmittelverpackung scheint ein Teil der Ästhetik zu sein. „Ich habe tatsächlich eine ganze Reihe von Bärenmarke-Kondensmilchdosen gekauft, wegen des unverwechselbaren hellblauen Grafikdesigns, das sich so gut von der orangefarbenen Wand dahinter abhebt“, gibt er zu. In seinen Küchenregalen steht auch eine Sammlung von Kaffeemaschinen, darunter die Moka Express, die erstmals in den 1930er Jahren von Alfonso Bialetti entworfen wurde, sowie Richard Sappers 9090 Espressomaschine für Alessi und einige Braun-Küchengeräte wie die Kaffeemühle von Reinhold Weiss. „Alle sehen wirklich neu aus“, sagt er, „aber ich benutze sie; sie dienen nicht nur der Präsentation.“

Es gibt insbesondere zwei Designer, deren Arbeiten sich wie rote Fäden durch Hans-Gerds Sammlung und Forschung ziehen. Der erste ist der bereits erwähnte Hans Gugelot (1920–1965), einer der am wenigsten bekannten Größen seines Berufs und Professor an der HfG Ulm, der im Alter von 45 Jahren durch einen Herzinfarkt in seiner Blütezeit gestoppt wurde. „Hätte er länger gelebt, denke ich, hätten wir viel mehr über ihn gewusst und er hätte so viel mehr erreicht“, sagt Hans-Gerd. „Er war unglaublich wichtig für die Ulmer Designschule. Das Produktdesign dort war meiner Meinung nach viel beeindruckender als das des Bauhauses – viel geradliniger, viel methodischer – und er war dafür verantwortlich. Er beeinflusste viele Studenten, darunter Reinhold Weiss und Richard Fischer, die zu Braun gingen. Gugelot war sicherlich für seinen Beitrag zum Braun-Design bekannt, aber ich finde es schade, dass er nicht mehr dafür bekannt ist. Der SK 4 ist auch in dieser Hinsicht ein gutes Beispiel für den Kontext. Das Design ist nicht nur Rams, es ist nicht nur Gugelot, und es sind auch nicht nur Rams und Gugelot. Es ist auch eine Idee von Fritz Eichler, ein System von Wilhelm Wagenfeld und Gerd-Alfred Müller, ein Layout von Otl Aicher … Sieben oder acht verschiedene Leute haben ihren Beitrag dazu geleistet. So ist Industriedesign. Niemand erwähnt meinen Namen, wenn es um einen BMW geht, oder den Namen des Ingenieurs, der einen Teil des Motors entworfen hat.“

Ein Olympia-Sportplakat von 1972 (Design: Gerhard Joksch), der Olympia-Waldi (Design: Elena Schwaiger, geb. Winschermann) und weitere Objekte aus dem Umfeld der HfG Ulm und von Otl Aicher

Die zweite wichtige Person in Hans-Gerd Sammlerleben ist der Grafikdesigner und Typograf Otl Aicher (1922–1991) – so sehr, dass das Farbschema seiner Wohnung auf dessen Arbeit zurückzuführen ist. „Ich erinnere mich, dass in meiner Kindheit Otl Aichers Entwürfe für die Olympischen Spiele 1972 in München allgegenwärtig waren, aber erst viel später erfuhr ich die Geschichte dahinter“, erklärt Hans-Gerd. Aicher war ein Schulfreund von Werner Scholl, dem Bruder der deutschen Anti-Nazi-Aktivisten Hans und Sophie Scholl, die 1943 vom NS-Regime hingerichtet wurden. Auch Aicher engagierte sich gegen die Nazis, desertierte aus der Armee und versteckte sich gegen Ende des Zweiten Weltkriegs mit der Familie Scholl. Später heiratete er die ältere Schwester Inge Scholl und beide gründeten gemeinsam mit Max Bill die Ulmer Hochschule für Gestaltung. „Als Aicher Chefdesigner für die Olympischen Spiele 1972 wurde, wollte er etwas gestalten, das so weit wie möglich entfernt war von Olympischen Spielen in Berlin 1936 unter den Nazis, daher enthält das Farbschema beispielsweise kein Rot, da er es für die Farbe von Diktatoren hielt.“

„Was mich an seiner Arbeit für die Spiele wirklich fasziniert, ist die Kombination aus seinem Wissen und Können im Grafikdesign und dem Inhalt oder der Absicht dahinter – dass seine Entscheidungen keine rein ästhetischen waren. Bei den Olympischen Spielen 1972 ging es darum, der Welt ein anderes Deutschland zu zeigen. Ich habe viel Zeit damit verbracht, über Otl Aicher zu recherchieren, die Archive der HfG Ulm zu durchforsten und mit Leuten zu sprechen, die mit ihm gearbeitet haben. Als ich dann in diese Wohnung einzog, die übrigens nur wenige hundert Meter von Aichers Designstudio entfernt liegt, genau wie von dort, wo Hans und Sophie Scholl lebten, beschloss ich, die Verbindung, die ich in meinem Herzen zu seiner Arbeit hatte, auch auf die Wände meines Zuhauses zu übertragen, indem ich jedes Zimmer in einer der Farben der Olympischen Spiele strich: Orange für die Küche, Blau für das Wohnzimmer, Grün für das Schlaf- und Arbeitszimmer / Büro und Silber für den Flur. Silber ersetzte damals Gold als festliche Farbe. Ich habe auch Bilder von einigen seiner frühen Entwürfe an den Wänden hängen, einschließlich eines der olympischen Fackelläufe, das ich sehr mag, weil einerseits alle Farben darin aufeinandertreffen und andererseits, weil er dieses Ding genommen hat, das die Nazis eingeführt haben (den Fackellauf) und seine Darstellung vollständig änderte und sie aller Mystifizierung und Symbolik beraubte, die die Nazis damit zu implizieren versuchten. “

Grunwalds Wahl des heimischen Farbschemas ist also nicht nur eine ästhetische, sondern auch eine politische und ethische. Es ist eine ungewöhnliche Art, die Farbe für eine Wohnung auszuwählen. Aber sie bringt in der Verweissstruktur eine Vielschichtigkeit mit sich, die dem Ethos dieses Designexperten voll und ganz entspricht: Das Farbschema vervollständigt neben den Möbeln und den ausgestellten Objekten die Innenausstattung seiner Wohnung zu einer Zusammenarbeit mit den Größen des deutschen Nachkriegsdesigns – über Raum und Zeit hinweg.

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Sophie Lovell ist Autorin, Herausgeberin und Creative Consultant.